Nach Zeitsprung

Aya lief. Die Dunkelheit senkte sich bereits langsam über das Zeltgelände und die anderen versammelten sich vermutlich um das Lagerfeuer.. aber solange es noch nicht richtig finster war, wollte Aya sich noch ein wenig umsehen. Fort von der Gruppe. Allein.
Sie erreichte den Waldrand und sah sich um, auf der Suche nach dem langen Baumstamm, auf dem sie beim letztjährigen Zeltausflug gesessen hatten, mitten in der Nacht. Die Lehrer wären vermutlich nicht begeister gewesen, hätten sie gewusst, dass sich die Hälfte ihrer Schüler nachts zu einer geheimen Party getroffen hatten.
Vielleicht haben sie es auch gewusst. Es spielt keine Rolle.
Auf jeden Fall war es der einzige Ort gewesen, den vermutlich kaum jemand kannte, außer jenen Schülern, die bereits letztes Jahr dabei gewesen waren.
Aya ließ sich auf den Baumstamm fallen und blinzelte zum Himmel auf. Keine einzige Wolke in Sicht... heute würde sie Sterne sehen können.

Kay musste feststellen, dass Aya verdammt schnell lief. Bis er sie einholte, würden sie schon mitten im Wald sein. Den sie, soweit er mitbekommen hatte, nicht einmal ohne Erlaubnis betreten sollten.
"Aya, warte!", rief er, doch gerade da hielt sie inne und setzte sich auf einen großen Baumstamm, den ein längst vergessener Sturm umgerissen haben musste. Langsam legte er die letzten Meter zurück.
Sie mussten nun tief im Wald sein, fast an seinem anderen Ende. Der Zeltplatz lag weit hinter ihnen.
"Hey." Müde ließ sich Kay neben Ayannah auf den Stamm fallen, ungefähr einen Meter Abstand zwischen ihnen. Die frische Waldluft linderte seine Kopfschmerzen und er konnte wieder klarer denken.
"Immer noch wütend auf mich?", fragte er und sah gerade aus in die Schatten, die immer länger wurden. "Ich wollte mich nämlich entschuldigen." Bei ihr konnte er das. Bei ihr war es leicht.

Überrascht riss Aya den Kopf hoch, als sie Kays Stimme hörte. Oh. Er schien ihr gefolgt zu sein?
Kay ließ sich ebenfalls auf den Baumstamm sinken und Aya registrierte den Abstand, den er zu ihr hielt... mittlerweile war sie fast so weit, es nicht persönlich zu nehmen: Sie wusste, dass der Abstand nichts damit zutun hatte, dass sie es war, neben der er saß.
Sie sah ihn nicht an, als sie antwortete, sondern spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. "Sauer?" Sie wusste es nicht. "Ich glaube nicht."
Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er gerade eine... angeregte Unterhaltung mit Penny geführt. Sie sprach ihren Gedanken laut aus.
"Warum bist du hier? Nur um dich zu entschuldigen?"

Kay hob die Schultern. "Ich weiß es nicht. Vielleicht auch um mich mit jemanden zu unterhalten, der nicht sauer auf mich ist." Ein leichter Wind sorgte für ein stetiges Rauschen in den Baumkronen. Der Wald war so friedlich. Nur eine Illusion, dachte Kay.
"Nicht dass ich es nicht verdient hätte-", fügte er hinzu. "Ich bin ein Idiot." Keine neue Erkenntnis. Und auch keine, die ihn weiterbrachte.

"Vielleicht bist du ein Idiot", erwiderte Aya gelassen und ohne jegliche Ironie in der Stimme. "Aber das ist in Ordnung. Du bist ein Idiot - und ich bin eine hoffnungslose Träumerin." Sie versuchte sich an einem Lächeln in seine Richtung, aber es viel etwas dürftig aus. "Da passen wir ja gut zusammen, was?"
Seit wann war sie so... wann war ihr Tonfall so bitter geworden?

"Oh." Kay blickte sie überrascht von der Seite an. "Ich darf annehmen, dass deine Laune auch nicht besser ist als meine?" Er dachte an das Gespräch von heute morgen. Verschenke niemals dein Herz...
Zu spät, hatte sie gesagt. Vielleicht musste er sich fürs erste an die neue, nicht ständig gut gelaunte Aya gewöhnen. Vielleicht war er nicht der einzige in dieser Freundschaft, der manchmal Trost brauchte.
Aber das war nicht schlimm. Wie konnte er von anderen Optimismus erwarten, wenn er ihn selbst nicht zustande brachte?

"Du darfst, ja." Aya zuckte mit den Schultern. Ein wenig hilflos. Er schien so überrascht, dass sie auch nicht gut gelaunt war, das es ihr fast Leid tat. Wie die meisten, kannte er sie nur als fröhliches, aufgeschlossenes Mädchen... ein Mädchen, das, wie ihr erst vor kurzem klar geworden war, zwar mit jedem gut auskam - aber niemanden hatte, den sie als besten Freund bezeichnen würde. Es war traurig, und irgendwie lächerlich, hatte sie sich doch immer darum bemüht, sich mit allen gut zu stellen.
Vielleicht ging das nicht.
"Das Leben ist nur momentan nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte."

Kay schnaubte. "Willkommen im Klub. Mir geht es schon seit einem guten halben Jahr so." Es schien eine so kurze Zeitspanne zu sein, jetzt da er es aussprach, und doch fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wie es sich anfühlte zufrieden zu sein. Sicher, ruhig, entspannt. Diese Wörter trafen nicht mehr auf ihn zu. Vielleicht nie mehr.
"Wann hat es eigentlich bei dir angefangen? Die Fähigkeit, meine ich.", fragte er, plötzlich neugierig.

"Ich war zwölf."
Sie dachte ungern daran. Nicht weil sie ihre Fähigkeit nicht mochte, nein im Gegenteil, sie liebte sie, aber weil es ihr oft so vorkam, als hätte sie für diese Fähigkeit etwas anderes eintauschem müssen: Ihre Schwester.
Vielleicht war es so, vielleicht hatte sie an diesem Tag eine Entscheidung getroffen, ohne es zu ahnen. Das sie in diesem Augenblick Yaleen verloren hatte.
"Ich habe einen Shek im Wald getroffen, auf der Insel, auf der ich gewohnt habe. Weißt du, was das ist, ein Shek? Eine riesige, geflügelte Schlange... sie sind sehr schön." Sie verstummte kurz. "Beängstigend, zuerst, aber auch beeindruckend... und später.. habe ich irgendwie seine Gestalt angenommen."
Sie winkte ab. "Es war nichts besonders aufregendes."

Kay verdrehte die Augen. "Klar, es ist ja auch vollkommen unspektakulär, wenn sich ein kleines Mädchen in eine riesige, fliegende Schlange verwandelt. Kommt so ziemlich jeden Tag vor."
Er kannte Sheks - manchmal hatten sich welche auch an die Küste bei Symiij verirrt und waren über den Unterwasservierteln durch die Lüfte geglitten. Schwerelos, aber auch gefährlich. Sie hatten die Fischbestände der Amusans um die Hälfte reduziert.
"Übrigens..., warum bist du eigentlich hier?" Er wechselte das Thema. Hatte sie eigentlich allein sein wollen?

Wieder zuckte sie unbestimmt mit den Schultern.
"Zum Nachdenken, eigentlich", erwiderte sie schließlich. Sie hatte nachdenken wollen, über all das, was in den letzten Tagen geschehen war - auch über ihn - doch seine Anwesenheit störte sie seltsamerweise nicht. Es war, als hätte sie sich damit abgefunden, das aus ihnen niemals mehr werden würde.
"Aber ich freue mich über Gesellschaft", fuhr sie fort.

"Wenn du es sagst." Kay schaffte es ein wenig zu lächeln. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Gesellschaft besonders angenehm war. Aber nun hatte sie die Chance ihn loszuwerden verspielt.
"Dieser Ort hier ist nett.", sagte er. "So ruhig. Und friedlich. Ich glaube, hier kommt selten jemand her."

"Oh, dieser Ort hier ist eigentlich ziemlich bekannt - zumindest war er es letztes Jahr. Unter den Schülern." Sie warf einen kurzen Blick in seine Richtung und erklärte: "Letztes Jahr haben wir schon einmal einen Zeltausflug gemacht, genau hierher, ans Meer, bei diesem Waldstück. Und nachts fand genau hier eine Party statt." Sie wies unbestimmt mit der Hand auf die Umgebung.

Kay musste grinsen. "Und Darren hat euch gehen lassen? Kaum zu glauben, wo er sich doch zurzeit wie eine Glucke benimmt, die die Aufsicht über ihre frisch geschlüpften Küken führen muss."
Seltsamerweise kamen ihm gerade jetzt Erinnerungen an sein Leben ohne Fähigkeit in den Sinn. Er kannte diese Unbeschwertheit. Früher waren er und seine Freunde immer zu einer Insel im Osten hinausgeschwommen. Und dort hatten sie ebenfalls "Strandpartys" gefeiert.

"Ich weiß nicht, ob er davon wusste..." Aya runzelte die Stirn. "Eigentlich wäre es unwahrscheinlich oder? Er weiß sonst immer so gut Bescheid." Aber wenn er davon gewusst hatte, warum war er dann nicht eingeschritten? Der Gedanke, Darren hätte im Dickicht des Waldes auf dem Boden gesessen und ihnen beim Feiern zugesehen war etwas... seltsam, zugegeben.
Da erinnerte sich Aya plötzlich an etwas. Sie hatte an diesem Abend vor einem Jahr weniger getrunken als die meisten und konnte sich daher bestimmt auch detailierter erinnern als andere...
"Ich frag mich eins..." Sie sprang auf und ging einmal um den Baumstamm herum. Was einem auf den ersten Blick nicht auffiel: Der Baum war hohl.
Vor dem einen Ende ging Aya in die Knie und spähte hinein, konnte jedoch bei der einsetzenden Dämmerung nichts erkennen. Vorsichtig streckte sie die Hand hinein, riss sich zusammnen, als sie Spinnweben fühlte und zog eine kleine Kiste heraus.

Kay lachte. "Ich glaube, Darren weiß alles." Beunruhigende Vorstellung eigentlich. Und doch schien es manchmal so. Kay fragte sich, wie er das machte. Stalkte er die Schüler etwa? Oder hörte er nur sehr gut zu?
Da sprang Ayannah plötzlich auf und holte etwas - nein eine Kiste - aus dem Baumstamm, der sich als hohl entpuppte.
"Was ist da drin?", fragte Kay fasziniert und pustete eine dicke Schicht Staub vom Deckel der Kiste. Dann öffnete er sie. Darin lagen - Flaschen.
"Nein!" Er begann zu lachen. "Das ist nicht dein Ernst, oder?"

Ihr Herz raste, Adrenalin schien durch ihren Körper zu schießen, je länger sie die Flaschen ansah.
Es war bescheuert. Absolut unverantwortlich.
Und somit vielleicht gerade das, was sie jetzt brauchte. Sie war die Schülersprecherin. Ein gutes Beispiel. Nett und zuvorkommend zu allen.
Sie war... ein wenig einsam. Hoffnungslos verliebt.
Plötzlich war der Wunsch entstanden, etwas Neues zu tun, etwas, dass die alte Aya niemals auch nur in Erwägung ziehen würde.
Langsam schlossen sich ihre Finger um den kühlen Hals einer Flasche und zogen sie aus der Kiste. Die klare Flüssigkeit spiegelte sich im Licht der untergehenden Sonne. Entschlossen schraubte sie den Verschluss ab und ließ ihn zu Boden fallen. Über den dunklen Boden rollte er davon.

"Ist das Wodka?" Die Flasche roch nach Desinfektionsmittel, wie Kay fand. Ziemlich stark sogar. Er kannte das. Nicht dass Wodka zu seinen Lieblingsgetränken gehörte, aber probiert hatte er ihn schon. Natürlich.
"Wie kommt es, dass ihr den übrig gelassen habt?" Er grinste Aya herausfordernd an. Half Wodka eigentlich gegen Kopfschmerzen?
Er warf einen Blick auf die anderen Flaschen. Alle trugen dasselbe Etikett. Aber als er eine weitere aus der Kiste nahm, bemerkte er, dass sie leer war. Nur noch eine einzige volle befand sich in der Kiste.
Dass die letztjährigen Schüler es unter Darrens Aufsicht geschafft hatten so viel Alkohol in das Lager zu schmuggeln, beeindruckte Kay.

Aya lächelte nicht, sondern fuhr gedankenverloren mit dem Zeigefinger über die Flaschenöffnung.
"Wir hatten noch eine Kiste", erklärte Aya langsam. "Und als die leer war, war niemand mehr in der Lage, die restlichen Flaschen auszutrinken."
Sie gab sich einen Ruck und setzte die Flasche an die Lippen. Die Flüssigkeit - der Wodka, oder was es war, sie hatte keine Erfahrungen mit Alkohol - schmeckte scheußlich, doch etwas zu tun, das vermutlich niemand von ihr erwarten würde, löste auch ein seltsames Gefühl von Genugtuung in ihr aus.

Kay grinste immer noch, jetzt etwas gezwungen. "Wäre doch eine Schande, das gute Zeug verkommen zu lassen." Er fragte sich, ob Aya wohl öfter einfach so ohne Anlass Alkohol trank. Sie wirkte so zielstrebig.
Aber die Frage, die sich stellte, war doch eigentlich: Warum nicht? Sie waren jung, sie konnten sich doch wohl einen Fehltritt erlauben. Eine harmlose Dummheit. Um ehrlich zu sein, war er froh über jede Dummheit in seinem Leben, die nicht tödlich endete.
"Lass mal rüberwachsen.", sagte er und streckte die Hand fordernd aus. Fast automatisch verfiel er in den Umgangston, den er früher mit seinen Freunden gepflegt hatte. Nein, Alkohol half nicht gegen Kopfschmerzen. Aber er half zu vergessen. Und Kay hatte viel zu vergessen. Ein ganzes halbes Jahr.

Aya reichte die Flasche kommentarlos an Kay weiter.
Wie lange es wohl dauerte, bis der Alkohol ihr die Wirklichkeit verschwimmen ließ? Wie war es, so viel zu trinken, dass man nichts mehr mitbekam? Aya wusste es nicht, aber so wirklich wollte sie es auch gar nicht wissen. Wenn sie Pech hatte - oder Glück? - würde sie es eh bald erfahren.

Es schmeckte noch genauso grauenvoll, wie Kay es in Erinnerung hatte. Der Wodka brannte in seiner Kehle und brachte ihn zum Husten. Was tust du da?
Er wusste es nicht. Aber bald würde auch diese Frage nicht mehr existieren. Bald war alles egal. Wenn er so weitermachte, würde die Stimme seines Gewissens schon bald verstummt sein, genauso wie die Gedanken an die Zukunft und die Angst vor der kommenden Nacht. Er würde Penny vergessen. Usui auch. Zumindest für einen Abend. Grund genug, fand Kay und nahm noch einen großen Schluck.
"Und was hast du vor, wenn du fertig bist mit der Schule? Irgendeine Idee?" Es spielte keine Rolle, was er fragte. Kay reichte die Flasche an Ayannah zurück.

(Nur so nebenbei: Weder Anni noch ich haben jemals eine Flasche Wodka pur getrunken, und wir raten auch jedem dringendst davon ab! Eine Alkoholvergiftung gehört nicht unbedingt zu den Erfahrungen, die man im Leben gemacht haben muss. Hier im Forum sind es nur Worte, die wir benutzen, und wir stellen den Konsum von Alkohol nicht unbedingt realistisch dar. Im wirklichen Leben sind die Auswirkungen wesentlich schlimmer. Das bedeutet, nicht nachmachen!)

Wieder griff Aya nach der Flasche und setzte sie an die Lippen. Sie dachte schon gar nicht mehr darüber nach... sie fühlte sich, als wäre es etwas, das einfach sein musste... es war ihr egal, wirklich.
Kurz verzog sie das Gesicht, als der Wodka brennend ihre Kehle hinunterrann. Sie wischte sich ein paar Tropfen mit dem Ärmel vom Kinn.
"Nach der Schule?" Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Reisen." Meine Schwester suchen.

"Spannend.", kommentierte Kay und nahm die Flasche erneut entgegen. Bei den nächsten Schlucken wurde ihm leicht schwindelig zumute. Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, mit Alkohol vorsichtig zu sein?
Ein weiterer großer Schluck brachte die Stimme seines Gewissens zum Schweigen. Meine Eltern haben mir auch beigebracht, dass ich ein Monster bin. Monster sind unverwundbar. Sie können tun und lassen, was sie wollen.
"Was ist mit deiner Familie? Willst du nicht zurück?"

Sie nahm einen weiteren Schluck. Sie sprach selten über Yaleen und wenn dann nur ungern. Yaleen beschuldigte sie.. was wenn sie recht hatte?
Doch im Augenblick kam es ihr leicht vor, so leicht... sie war es satt, darüber nachzudenken.
"Ich möchte meine Schwester suchen." Wusste überhaupt jemand auf dieser Schule von Yala? Von Hope abgesehen natürlich... "Wenn sie noch lebt."