Als Al eine vertraute Stimme hörte, lächelte sie spontan, und weil es ihr plötzlich so leicht fiel, blieb das Lächeln. "Viv!" Sie stand auf und wollte Vivalie umarmen, einfach so, ohne Grund, doch irgendetwas an deren Gesichtsausdruck hinderte sie daran. Erst jetzt begann sie wirklich die ganze Tragweite ihres Handelns zu erfassen. Was sie Viv angetan hatte...
"Hast du dir Sorgen gemacht?", fragte sie, ihrerseits besorgt. "Das wollten wir nicht..."

Sorgen... mehr als das.
Viv sah das Lächeln auf Alyshas Gesicht und irgendetwas daran wirkte so anders... es war ein leichtes Lächeln. Ein echtes. Glückliches. Vivalie schien, als hätte sie etwas wichtiges verpasst... schon wieder. In diesem Moment würde sie Al am liebsten umarmen, doch sie traute sich nicht - als würde ihre Freundin verschwinden, wenn sie es versuchte.
Als sie sprach, klang ihre Stimme irgendwie rau. "Geht es dir gut?"

"Ich weiß nicht.", erwiderte Al leicht unsicher. "Ich glaube, gut ist relativ. Aber ... besser. Ja, ich glaube, es geht mir besser." Sie nahm Vivalies Hand und führte sie zu dem Platz, an dem Delayne immer noch saß. "Setzen wir uns?"
Sie spürte den sanften Regen auf dem Gesicht und ließ ihn wärmer werden, ein lauer Sommerregen. "Ich habe es regnen lassen.", erklärte Alysha, seltsam stolz. "Es gibt so viele verschiedene Arten von Regen. Sommerregen, Winterregen, Herbstregen, Frühlingsregen. Nieselregen, Platzregen, Wolkenbruch... Das ist unglaublich." Al wusste nicht, warum es wichtig war. Aber es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie wirklich stolz auf ihre Gabe war, stolz darauf, was sie alles tun konnte, damit.

Viv wusste nicht, wie sie es beschreiben sollte, doch wirklich, irgendetwas in Al hatte sich verändert. Sie wirkte glücklicher... irgendwie zuversichtlich, als prallten all die dunklen Zeiten plötzlich von ihr ab.
Vivalie bewunderte sie dafür.
Sie wirkte stolz, als sie über den Regen sprach und zum ersten Mal begriff Vivalie wirklich, dass es nie Als Fähigkeit gewesen war, die sie so heruntergezogen hatte, anders als bei ihr. Zum ersten Mal begriff sie, dass Alysha ihre Gabe wirklich liebte.
Viv streckte eine Hand aus und sah zu, wie die Regentropfen auf ihrer Handfläche landeten, schimmernde Perlen aus flüssigem Kristall. "Es ist eine schöne Gabe."

"Jede Gabe ist auf ihre Art wunderschön.", entgegnete Alysha. "Sogar deine. Auch wenn du es nicht siehst." Es war dieses komische Gefühl, als müsste sie gleichzeitig lachen und weinen und sie drückte sowohl Vivalies als auch Delaynes Hand kurz, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren, dass sie wirklich echt waren und kein Traum.
"Viv? Erinnerst du dich noch, dass ich reden wollte? Ich dachte, es sei zu spät dazu, dass es nichts mehr ändern würde, doch jetzt fühle ich, dass das genau das Falsche war. Manche Erlebnisse kann man nicht alleine bewältigen. Ich habe gesehen, was mit mir geschieht, wenn ich nicht davon erzähle, und so möchte ich mich nie wieder fühlen." Alysha stockte. Was sie gestern noch vorgehabt hatte, erschien ihr jetzt so unvorstellbar, so grausam für sich und die ganze Welt. "Würdet ihr mir immer noch zuhören? Wenn ich rede?"

Al war also der Meinung, dass jede Fähigkeit schön war? An Sterben und Tod war nicht schönes, außer er beendete ein noch schrecklicheres Leben. Ansonsten... das Wiederbeleben funktionierte nicht mehr, sie hatte es in den letzten jahren versucht. Doch nichts war geschehen, nichts hatte sich geändert, nicht einmal ein Wiesel, das im Wald gestorben war, huschte ins Leben zurück.
Als Alysha meinte, dass sie erklären, erzählen wollte, breitete sich Erleichterung in Viv aus. Würde sie jetzt erfahren, was ihre Freundin zu diesem Sprung bewogen hatte?
Sie ließ sich zögernd auf den Boden sinken. Setzte sich. "Ich werde zu hören.", sagte sie rasch. Natürlich würde sie das. Wo es gerade das gewesen war, das sie zuvor versäumt hatte.

"Danke." Alysha lächelte diesmal nicht, sie konzentrierte sich. Vorher hatte sie versucht die richtigen Worte zu finden, die Reihenfolge einzuhalten. Doch es gab nicht die richtigen, nicht genügend Worte um Eleyn zu beschreiben. Und letztendlich ging es auch nicht um die zeitlichen Abläufe, sondern nur um eines: Um Eleyn.
"Ich werde nicht am Anfang beginnen.", sagte sie. "Denn das funktioniert nicht. Aber vor fünf Jahren bin ich dem Engel entkommen. Ich habe eine andere Welt betreten. Und dort bin ich Eleyn begegnet." Sie pausierte kurz. "Ich weiß nicht, warum ausgerechnet mir so etwas Unglaubliches passiert ist. Vielleicht war es Schicksal. Vielleicht sollte ich jemandem begegnen, der mich für immer verändert. Ich habe mich verliebt - und mehr als das. Ich würde mein Leben für sie geben." Al zögerte, sah Vivalie abwartend an, unsicher, wie sie reagieren würde. Denn kurioserweise hatte sie Angst, dass das Viv am meisten verstören würde. "Eleyn ist ein Mädchen."

Vivalie saß auf dem Boden und hörte zu. Saugte die Worte auf, die ihr vielleicht erklären würden, was gestern geschehen war - und vor allem warum. Nachdem Al geendet hatte, sagte Vivalie erst einmal nichts, sondern wiederholte das Gehörte im Kopf noch einmal. Eleyn ist ein Mädchen... Als erstes fühlte sie sich ein wenig erschrocken und ärgerte sich sofort darüber. Es war unerwartet ja, aber wenn Al diese Eleyn wirklich liebte, dann war das okay. Sie musste ein guter Mensch sein. Vielleicht würde Viv ein wenig Zeit brauchen um sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, schließlich war es wirklich überraschend für sie gekommen - doch was wäre sie für eine Freundin, wenn sie jetzt ablehnend reagierte? Viv ließ sich von ihrer Überraschung nichts anmerken, sondern starrte nachdenklich vor sich hin, während sie erneut über die Worte nachdachte, die Al gesprochen hatte...
"Eine andere Welt?", fragte sie schließlich nach. Es war das einzige Puzzleteil, das nicht zu passen schien und bei dem sie Hilfe brauchte.

Gedankenverloren löste Al ihre Haarspange und ließ zu, dass der Wind mit ihren Haaren spielte. Die kühle Luft auf ihrem Gesicht ließ sie ein Stück Freiheit spüren, die sie längst verloren geglaubt hatte. Sie war immer noch sie selbst. Sie konnte immer noch ihre eigenen Entscheidungen treffen, ihr Leben in die Hand nehmen. Selbst wenn alles verloren schien, konnte sie immer noch gewinnen.
Denn auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie erreichen konnte, was sie wollte, erkannte Alysha zumindest eines: Was sie nicht wollte. Sie wollte nicht sterben, nicht ihr Leben einfach wegwerfen, nur weil die Welt so offensichtlich gegen sie war. Einst hatte Eleyn Al gelehrt zu kämpfen, so wie sie es schon ihr ganzes Leben lang getan hatte. Kämpfen, selbst wenn das eigene Leben den Tod wollte.
"Ich verstehe es selbst nicht so ganz.", sagte sie, während sie versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. "Da war eine Frau. Sie zeigte mir eine Tür, mitten in der Welt, ohne Gebäude dazu. Und als ich sie durchschritt, konnte mir Gabriel nicht folgen. Dort war alles anders. Ich traf Eleyn und Roxana und Xavien und all die anderen und ich... Ich hatte ein anderes Leben. Ein glücklicheres." Dieser verzweifelte Ausdruck trat in ihre Augen, sie strahlten wie schwarze Löcher eine unglaubliche Leere aus. "Dann hab ich es verloren. Ich habe alles verloren, denn sie haben mich zurückgebracht. Ohne mir Gründe zu nennen, ohne überhaupt zu erklären, was mit mir geschehen war. Deshalb bin ich so verzweifelt. Es ist als ob man den Himmel gezeigt bekommt und dann in die Hölle zurückgeschickt wird. Ich spüre immer noch diese Leere in mir..."

Delayne hörte Alysha schweigend zu. Sie kannte sie kaum und denn noch verstand sie sie, jedenfalls ein bisschen.
Nur bei den letzten Worten sah sie auf und sagte leise.
"Aber in der Hölle gibt es keine Engel, oder?", fragte sie sachlich.

Alysha seufzte leise. "Das hier ist nicht wirklich die Hölle.", sagte sie. "Aber meinen Engel habe ich verloren... Deshalb kann ich mich in meinem Zuhause nicht mehr zuhause fühlen, bin wie ein Baum, der seine Wurzeln verloren hat. Diese - meine Welt ist wunderschön, doch ohne Eleyn hat sie ihre Farben verloren."

Endlich hatte Vivalie wieder das Gefühl zu verstehen, zu wissen, um was es ging.
"Gibt es einen Weg... diese Tür wiederzufinden?" Sie wollte es glauben. Sie wünschte Alysha ihr Glück, doch ob sie es glaubte? Das Leben war nun einmal nicht fair. Es gibt dir, was du dir wünscht, nur um es dir danach zu entreißen. All das wollte Alysha jedoch nicht sagen. Sie keine Hoffnungen zerstören, die womöglich existierten....

Alysha zuckte mit den Achseln. "Ich habe jahrelang danach gesucht. Und sie haben mir gesagt, es gibt keinen Rückweg. Ich hab ihnen nicht geglaubt und weitergesucht. Und irgendwann, schließlich, hab ich aufgegeben. Wenn es eine Tür gibt, dann werde ich sie niemals finden."

Nachdenklich starrte Viv an Alysha vorbei in die Luft. Wenn alles so hoffnungslos war, wie schaffte sie es dann, zu lächeln? Wie schaffte sie es das Ganze dann mit einem Schulterzucken zu quittieren?
"Wenn du dir sicher bist, dass es keine Möglichkeit gibt..."

"Ich kann nie sicher sein..." Alyshas Stimme war nur ein dahingehauchtes Flüstern. "Und vielleicht ist das der Grund, warum ich mich weigere, aufzugeben. Mein Kopf hat es längst eingesehen, dass es zu spät ist. Aber mein Herz weiß es nicht..."

(gib mir demnächst mal die Chance, abzudampfen, Viv hat ein Versprechen zu halten )

"Hm..." Viv seufzte. Die Ungewissheit musste schlimmer sein als alles andere... doch sein Leben lang nach etwas zu suchen, dass nicht existierte, wäre traurig und würde kein gutes Ende nehmen... und doch gab es dem Leben einen Sinn. Viv fasste einen Entschluss.
"Solltest du dich jemals entscheiden, weiter nach der Tür zu suchen", fing sie an. "Werde ich dir helfen - wenn du das willst."

Alysha konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Zu ahnen, zu wissen, dass es Menschen gab, die hinter ihr standen, ganz gleich wohin sie ging, egal, was sie tat, das war mehr, als sie jemals verlangen konnte.
Sie schluckte mehrmals und als sie wieder sprechen konnte, wechselte sie das Thema. Sie würde wieder darüber reden, würde es müssen, um nicht zu zerbrechen, aber für den Moment war es genug. Für den Moment konnte sie nicht mehr davon ertragen.
"Gehen wir zum Unterricht?", fragte sie mit dünner Stimme.

"Ja...", erwiderte Viv und ihr wurde klar, das Al das thema absichtlich wechselte. "Ja", sagte sie erneut mit kräftigerer Stimme. "Lass uns zum Unterricht gehen." ...der wahrscheinlich bereits angefangen hat... aber sie hatte es versprochen. Irgendetwas sagte ihr, dass sie das bereuen würde...
Alle drei machten sich auf den Weg zu den Klassenzimmern.

Viv, Al, Delayne --> Klassenzimmer (Darren)