Die Lichtung war wunderschön. Kleine Lichtpunkte tanzten auf hellgrünen Blätter und verwandelten alles in ein Spiel aus Licht und Schatten. Winzige Blumen drängelten sich durch eine Schicht aus Laub ans Tageslicht und malten bunte Tupfer ins Gras. Leises Vogelgezwitscher und das Rascheln des Windes untermalten den Frieden dieses Ortes, der, wie es schien, durch nichts gebrochen werden konnte.
Beinahe genau in der Mitte der Lichtung war das Grab. Ein kleiner Erdhügel, auf dem nur ein schlichter grauer Grabstein stand. Und nur die Inschrift zeugte von der wahren Trauer ihrer Verfasser.

Sorrow
Manchmal fällt auch das hellste Licht
den Schatten anheim...

Darren blieb zwischen den Schatten der Bäume stehen. Taktvoll wollte er Vivalie einen Moment für sich allein lassen. Er selbst war schon oft genug hier gewesen.
Auf dem Grab lagen verwelkte Blumen. Er wusste, woher sie stammten. Aber er hoffte, Viv würde nicht fragen.

Die Lichtung befand sich nicht weit von der Stelle entfernt, an der Sorrow gestorben war. Von der Stelle entfernt, an der sie sie getötet hatte. Ohne zu merken, das Darren zurückgeblieben war, stolperte Vivalie ein paar Schritte auf das Grab zu. Kaum einmal zu vor war sie zu den Gräbern zurückgekehrt, die sie auf ihrem Weg hinterließ, doch jedes Mal wenn sie es tat, fühlte sie sich, als sterbe sie innerlich ein wenig mehr. So fühlte sie sich, als ihr Blick auf das Grab fiel: tot, so tot. Trauer und Schuld trieben ihr die Tränen endgültig in die Augen.
"Ich hätte Blumen bringen sollen, oder so.", flüsterte sie erstickt und versuchte die Tränen wegzublinzeln. "Aber es sind ja schon welche da." Langsam ließ sie sich neben dem sanften Erdhügel zu Boden sinken.

Als Vivalie in die Knie ging, schloss Darren mit ein paar Schritten zu ihr auf. Sie so zerbrochen zu sehen, tat fast körperlich weh. Er konnte nicht anders, er legte ihr eine Hand auf die Schulter und hoffte, dass es ihr irgendwie Trost spenden konnte.
"Ja.", erwiderte er heiser. "Das ist, weil..." Er brachte den Satz nicht zu Ende.

Vivalie riss die Augen auf. "Weil... weil was, Darren?" irgendetwas in seinem Ton machte ihr Angst.

Darren zögerte. Was würde sie mehr verletzen? Die Wahrheit oder eine Lüge?
"Fünf Jahre sind lang, Viv. Schüler kamen und gingen und bald machten sie sich einen eigenen Reim darauf, was hier geschehen ist. Sie wissen nur, dass hier jemand begraben liegt, der durch die Fähigkeit eines anderen gestorben ist. Und jede neue Schülergeneration besucht dieses Grab und lässt ein paar Blumen da..." Er biss sich auf die Lippen. "Das Grab ist zu einer Art Mahnmal geworden. Es soll zeigen..." Er seufzte leise. "Wie wichtig es ist, dass man seine Fähigkeit kontrollieren lernt."

"Oh.", flüsterte Vivalie tonlos. Jetzt machte Darrens Zögern Sinn... dass hier jemand begraben liegt, der durch die Fähigkeit eines anderen gestorben ist. Die Worte bohrten sich in ihr Herz, ließen es schmerzen und dann leer und taub zurück. Wieder wollten ihr die Tränen in die Augen steigen, doch sie hielt sie zurück. Es kostete sie so viel Kraft. Sie versuchte den Schmerz der in ihr aufstieg hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen.
"Das ist gut.", fuhr sie ohne jedes Gefühl fort. "Vielleicht lässt es sie vorsichtiger werden."

Darren schüttelte den Kopf, ohne genau zu wissen, warum. "Es... tut mir leid.", murmelte er. "Verzeih mir. Ich hätte es dir... nicht sagen sollen." Aber das hätte nichts besser gemacht, denn sie hätte es irgendwann so oder so erfahren, wenn auch nicht von ihm. Es hätte nur Vertrauen zerstört, Vertrauen, das gerade erst wieder angefangen hatte zu sprießen.

"Nein, es ist gut so.", meinte sie und straffte die Schultern. Hastig erhob sie sich vom Boden - plötzlich war es ihr peinlich, dass er ihren Zusammenbruch mitbekommen hatte. Er hatte sie schon einmal schlimmer erlebt, doch das war 5 Jahre her... hätte sich in der Zwischenzeit nicht etwas verändern sollen? Sie riss sich zusammen und versuchte ein Lächeln, doch ob es ihr gelang, wusste sie nicht. "vielleicht bewirkt es tatsächlich mehr, als alle Warnungen dieser Welt."

"Sie würden dich nicht verdammen, wenn sie dich kennen würden.", sagte Darren leise. "Niemand könnte das."
Du musst mir nichts vormachen... niemand hat gesagt, dass es deine Pflicht ist, immer stark zu sein... Er bückte sich und pflückte ein paar der kleinen Blumen, um sie auf das Grab zu streuen. Sie segelten sanft herab, während sich ihre kleinen Köpfe immer im Kreis drehten.

Viv drehte sich zu ihm um, ihr Gesicht schien noch immer wie Stein.
"Macht es denn einen Unterschied?", fragte sie. "Ich habe getan, was ich getan habe, und allein das reicht schon aus um mich zu hassen." Ich tue es ja selbst... Sie sah ihn an, unfähig den Blick zurück zum Grab zu wenden.

Als er sie so kühl, scheinbar unberührt sah, hätte er sie am liebsten in den Arm genommen. Aber Darren wusste, dass das keine gute Idee war. Viv würde es bestimmt nicht wollen, sie würde ihn fortstoßen, aus mehr als einem Grund.
"Niemand sollte sich selbst hassen müssen.", entgegnete er. Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu. "Ich hasse dich nicht. In all den Jahren habe ich dich nicht eine Sekunde lang dafür hassen können."

Vivalie zuckte überrascht zusammen. Erleichterung durchströmte sie; ein wenig fühlte sie sich besser.
Sie wandte den Blick nicht von Darrens Gesicht. "Danke.", meinte sie und es kam aus tiefstem Herzen. Wusste er eigentlich, wieviel er für sie tat?

Pure Erleichterung durchströmte Darren und er versuchte sich das nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Schon früher hatte er oft das Gefühl gehabt, dass Vivalie sich entfernte, obgleich sie stehen blieb, dass sie unnahbar und kühl wurde und niemanden an sich heranließ. Er konnte dieses Gefühl nicht ertragen, dass sie ihm entglitt und er sie nicht aufhalten konnte, ehe es endgültig zu spät war.
"Nicht doch.", sagte Darren und schüttelte den Kopf. "Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun..." Vielleicht konnte er das ja, sein Unterricht hatte schon anderen geholfen. Aber dazu musste sie es zulassen.

"Es ist in Ordnung, Darren.", meinte sie seufzend. "Du hilfst mir mehr als du ahnst.. Einfach nur, indem du mit mir sprichst. Ich habe nicht viele Freunde." Das Eingeständnis tat ihr nicht mehr weh, es hinterließ bloß klaffende leere. Nun, kein wunder das sie keine Freunde hatte... wie auch, wenn sie in ihrer Umgebung früher oder später starben?

"Das kann sich ändern.", sagte Darren beschwörend. "Es wird nicht immer so sein wie jetzt. Dass du dich selbst fürchten musst. Es werden glücklichere Tage kommen und dann werden die Menschen merken, wie oft der Schein trügt. Dass die, die sie als Freunde haben, möglicherweise schlimmer sind, als du es je sein könntest." Er zögerte kurz. "Ich habe viele Menschen mit Gaben kennen gelernt und ich bin dankbar, mehr als dankbar, dass du diese, eine der mächtigsten Gaben bekommen hast und niemand sonst. Es wäre nicht auszudenken, was andere, weniger Weise und Gütige, damit anrichten könnten."

Viv schnaubte; etwas, dass sie selbst überraschte.
"Das hab ich schon einmal gehört.", meinte sie sarkastisch. (haha, mir fällt nix ein XD) "Ist es egoistisch zu sagen, das mir das egal wäre.. wenn es nur jemand anderes wäre?"

Darren schüttelte den Kopf. "Nein.", sagte er."Es ist mehr als verständlich." Ich kann es logisch angehen,es drehen und wenden und von allen Seiten betrachten und doch... Um deiner Willen wünschte ich, es wäre jemand anderes...
Es faszinierte ihn, wie schnell sie den Schock, Sorrows Grab zu sehen, weggesteckt hatte - er bewunderte ihre Stärke. Und doch fragte er sich, wie stark sie wirklich war - und wie viele ihrer Gefühle Viv lediglich hinter einer Maske verbarg.
"Möchtest du noch bleiben?"

Sobald Viv die Lichtung betrat, schlug nicht nur die neuerliche Erinnerung an Sorrows Tod auf sie ein, sondern auch das, was sich nur wenige Stunden zuvor auf dieser Lichtung ereignet hatte: Sie hätte Darren fast getötet. Dieser Ort... sie mochte ihn einfach nicht!

Es war so friedlich hier. Alysha hatte es sich anders vorgestellt, irgendwie... bedrückender. Aber dies war einfach nur ein schöner Ort, eine Lichtung im Wald, in der wirklich noch Licht zu finden war. Sorrow hätte das gefallen.
Aber es war still hier. Und die kleine Elfe war nicht da.
Alysha sah den gequälten Ausdruck auf Vivalies Gesicht und wusste, es war an der Zeit zu reden. Egal, wie sehr es schmerzte, Viv hatte ein Recht darauf es zu erfahren.
"Viv?", nur zögernd sprach sie sie an. "Es gibt da etwas, was du wissen solltest..."

Langsam drehte Viv den Kopf und sah Alysha an. Etwas... dass sie wissen sollte? Noch mehr?
"Ja?", fragte sie zögernd. "Was?"

„Ich hab von dir geträumt. Weißt du, das tu ich oft. Ich lebe meine Träume. Oder ich träume mein Leben, wie auch immer.
Es war aber nicht viel über dich dabei. Nur wer du bist. Und dass du jemandem mit weißen Haaren begegnen wirst. Und dass diese Person dein Leben verändern wird.“

Schon damals hatte Sorrow es ihr gesagt... auch wenn Al es nicht verstanden hatte. Die Elfe hatte ihr alles gesagt, was sie wissen musste, dachte Alysha schmerzlich. Hätte sie es eher verstanden, wäre das alles nie passiert.
"Ich hab es gewusst, Viv.", wisperte sie, noch immer bestürzt. "Sorrow hat mir gesagt, dass es geschehen würde. Aber ich habe sie nicht aufgehalten. Das alles ist meine Schuld..."

Viv verstand erst nicht, was Alysha ihr sagen wollte, dann wurde es plötzlich schmerzhaft klar. Wie so oft fühlte Vivalie sich kalt und leer.
"Du... hast es gewusst." Ihre Stimme klang monoton. Viv hatte sich wieder in ihre Kälte, hinter ihren Panzer geflüchtet, in der Hoffnung, dass es dort nicht ganz so weh tun würde. Wie immer machte es keinen Unterschied.
Al hatte es gewusst... gewusst...
gewusst?
Aber wie verdammt noch mal hatte sie es wissen können?
Aber wieso war Sorrow gekommen, wenn sie es doch gewusst hatte?

"Sie hatte es bereits geträumt." Alysha konnte Vivalie nicht ansehen. "Das hat sie mir erzählt, doch ich hab es nicht verstanden. Und dann ist sie gegangen - zu dir. Bis ich es dann kapiert hatte und losgerannt bin, war es zu spät..." Warum, verdammt, war sie damals so langsam gewesen?!?
"Deshalb war ich auch die erste - die erste, die... dich gefunden hat."
Tränen standen in Alyshas Augen. So lange hatte sie geschwiegen und ihre Schuld begraben. Was hatte das Vivalie nur angetan?
Eine weiße Taube saß auf dem Grabstein und flatterte auf, als Al sich einen Schritt zurückbewegte. Eine ihrer Federn segelte auf die beiden Mädchen herab, fand ihren weg zum Boden.
"Ich weiß, dass ich fliegen werde..."

"Geträumt.", erwiderte Vivalie hohl. Schmerzhaft erinnerte sie sich an das Gespräch, dass sie zuvor noch mit der kleinen Elfe geführt hatte, an ihre letzten Worte. Es war fünf Jahre her, und doch waren diese Sätze in ihr Gedächtnis eingebrannt.

"Ich glaubte nicht, dass du es könntest, weißt du?"

„Mich töten, meine ich. Ich glaube, dass sich dein Herz dagegen wehren würde.“

Es war doch geschehen, es war geschehen, obwohl Sorrow mehr davon geahnt hatte, als jeder andere. Warum, warum hatte sie Vivalie dennoch auf der Lichtung aufgesucht, obwohl sie wusste, was passieren würde? Es waren diese Sätze, die Sorrow gesagt hatte, sie sie die ganzen fünf Jahre lang verfolgt hatten. Die kleine Elfe hatte mehr in ihr gesehen, als sie selbst es konnte, hatte zu viel Vertrauen in sie gesteckt.

Alysha schlug die Augen nieder. "Es ist meine Schuld.", wisperte sie. "Wenn ich nur schneller gewesen wäre..., hätte ich sie noch aufhalten können." Dann wäre all das nie passiert...
Ein Windhauch bewegte den Wald. Die Blätter raschelten, die Bäume bogen sich. Laub segelte zu Boden.