Ein Abschnitt aus Miras Vergangenheit.
Der Titel stammt von einem Lied, das ich beim Schreiben gehört hab, und mir ist nichts Besseres eingefallen. Das ist nur der Anfang, die Geschichte geht noch weiter. Feedback, Lob, Kritik ist wie immer erwünscht.
My Never
„Wir sind etwas zu früh. Er wird sicher in einer Minute da sein.“ Er lächelte, als er sie ansah. So wie er es immer tat. Sie hatte den Grund dafür nie ganz verstanden.
„Sicher.“, wiederholte sie zweifelnd. So viel Spaß konnte es nicht machen, ihr Gesicht anzuschauen. Egal welches es gerade war.
Die Kirche, in der sie sich befanden, war ein riesiger Bau. Bis zum Altar waren es von der Mitte, wo sie standen, noch gut hundert Schritte. Er war schlicht gehalten, weißer Marmor, der nicht ganz zum restlichen, hölzernen Innenleben passen wollte. Das Dachgewölbe unendlich weit über ihnen, mit dunklem Holz vertäfelt.
Das Kreuz war von hinten beleuchtet – man konnte die schmerzverzerrten Gesichtszüge des Mannes daran gut erkennen. Selbst ihren Heiland ließen die Menschen leiden, dachte Mi.
„Hey, was ist los?“ Kido grinste, trotz ihrer offensichtlich nicht vorhandenen Begeisterung. Er machte ihr nie einen Vorwurf, wenn sie wieder eine ihrer Launen hatte. Ihn schien es nicht einmal zu stören und wie kein anderer schaffte er es, sie ein ums andere Mal aufzumuntern.
Ich will dein Lächeln sehen… Es war, als würden seine Augen das immerzu sagen und gleichzeitig bestätigen, dass er ihr Gesicht selbst mochte, wenn sie die finstersten Grimassen schnitt.
„Nicht Mis Lieblingstag?“ Er legte die Stirn in Falten.
Sie hob die Schultern. „Ich glaub einfach nicht, dass er kommt. Warum sollte er?“
„Die Frage ist, warum sollte er nicht? Ich meine, das hätte er doch gleich sagen können.“ Leichthin nahm Kido sie bei der Hand und schlenderte mit ihr den Mittelgang entlang. Bereitwillig ließ Mi sich mitziehen, bis sie direkt vor den Stufen standen, die zum Altar führten.
„Vielleicht hat er gelogen, um dich ruhig zu stellen.“, gab sie zu bedenken.
„Immer so pessimistisch.“ Kido zwinkerte ihr zu und drückte ihre Hand kurz, wie ein geheimes Zeichen. „Vielleicht wirst du ja heute positiv überrascht. Das ist natürlich der Vorteil der Pessimisten.“ Sein Grinsen erinnerte sie an den Sommer, der bald kommen würde. An sonnenwarme Steine und Platzregen, Hitzegewitter und daran, dass er vermutlich der einzige Mensch war, der sie positiv überraschen würde. Sie würden wieder an den See fahren, wo man so alleine sein konnte wie nirgendwo sonst. Und sie konnte den Rest der Welt vergessen.
„Und außerdem ist das nicht irgendwer, Mi. Das ist ein Engel! Einer wie wir!“
Ach ja. Würden sie doch nicht.
„Er hat gesagt, er zeigt uns den Weg zu den anderen. Und sie werden alle wie du und ich sein und dann haben wir endlich unseren Platz gefunden.“
Sie würden gehen und Engel suchen und ein neues Leben beginnen, ohne Großstadt, ohne Adoptiveltern, ohne Schule und Klassenkameraden. Ein Traum, der nicht wahr werden konnte. Freute Mi sich? Nein. Sie hatte Angst.
„Niemand ist wie ich.“, sagte sie leise und nur weil es Kido war, sprach sie es aus.
Aufmerksam sah er sie an und seine Stimme klang seltsam rau, als er erwiderte: „Ich weiß.“
„Vielleicht gibt es da auch keinen Platz für mich.“
Er brauchte lange für seine Antwort und das überraschte sie. Normalerweise war Kido nie um eine Antwort verlegen. „Du bist was Besonderes, Mi. Aber das muss doch nicht was Schlechtes bedeuten. Ich… ich mag dich, weil du so bist, wie du bist.“
Sie lachte kurz und trocken auf. „Erklär das den Menschen. Sie scheinen es nicht zu sehen.“
„Vielleicht bist du zu gut für sie.“
Sie schnaubte. Doch als er erneut ihre Hand drückte, hielt sein Blick sie gefangen. Er sah so ehrlich aus.
Das kannst du nicht ernst meinen…
„Warum willst du überhaupt gehen?“, wich sie auf ungefährlichere Themen aus. „Du magst die Stadt. Die Leute akzeptieren dich…“ Kido war nicht wie sie. Er würde überall hineinpassen, in jeder Stadt seine Nische finden. Sie waren komplette Gegenteile, so wie zwei Pole eines Magneten, und sie verstand in manchen Momenten nicht, warum er sich überhaupt mit ihr abgab. Nur dass es so war, genügte schon für sie. Mehr konnte sie sich nicht wünschen.
„Es geht mir nicht um mich, Mi. Sondern um dich. Ich dachte, du hasst es hier.“ Nachdenklich blickte er sie an.
„Vielleicht.“, entgegnete sie. „Aber wer sagt, dass es anderswo besser ist?“
Einen Moment lang hielt er ihren ernsten Augen stand, dann gab er auf und lächelte. „Oh, Mi.“
Unbeschwerten Schrittes ging er die Stufen empor; sie folgte.
„Ich werde einen Platz finden, der dir gefällt. Versprochen.“
Es geht nicht um das Wo, dachte sie. Mehr um das Wer. Wenn sie daran glauben könnte…
Auf dem Altar lag eine blütenweiße Decke, perfekt glatt gestrichen. Darauf stand eine einzelne Kerze, die jemand erst kürzlich angezündet haben musste – sie war noch kaum heruntergebrannt.
„Du weißt, warum die Menschen hierher kommen?“ Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
„Weil sie glauben.“, antwortete Mi. „Und wenn jemand stirbt.“
„Und... – manchmal kommen zwei Menschen auch hier, um sich ein Versprechen zu geben. Eines, das bis ans Lebensende gilt.“ Er sah verlegen aus, blickte sie nicht mehr an. „Sie heiraten.“
„Klingt nett.“, sagte Mi, die genau wusste, was Heiraten war und wie es funktionierte. Und mindestens einmal wöchentlich den Drohungen ihrer Adoptivmutter, sich scheiden zu lassen, zuhören musste. „Wenn sie es einhalten würden, das Versprechen.“
„Manchmal – wenn sie es ernst meinen – da tun sie das.“, entgegnete Kido. „Ich würde es tun.“ Er schon. Er war anders.
„Mi.“ Er klang nervös, unsicher, so wie sie es gar nicht von ihm kannte. „Ich weiß nicht, was passieren wird in der nächsten Zeit, oder generell irgendwann in unserem Leben. Ich weiß nicht, wohin unser Weg uns führen wird. Aber…“ Er zögerte. „Ich will, dass es ein Weg bleibt.“
Was meinst du?, dachte Mi.
„Ich will dich nicht verlieren.“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Wenn… wenn wir irgendwann einmal soweit sind, erwachsen sind, wirst…“ Er schien nach Worten zu ringen; Mi war verwirrt. Was konnte so schwer zu sagen sein?
„Willst du mich dann irgendwann heiraten? Versteh mich nicht falsch, ich meine nicht jetzt sofort, nur…“ Seine Augen flackerten unruhig. „Ich kann’s nicht wissen, verstehst du? Ob du nicht jetzt, wo wir all diese Engel treffen werden, jemand… Besseren finden… wirst.“ Seine Stimme brach ein wenig bei den letzten Worten.
Oh, dachte Mi. „Ich.“, sagte sie langsam. „Glaube nicht, dass ich jemand anderen finden werde.“
„Das heißt… ja?“, fragte er unsicher.
Sie brachte ein Lächeln zustande. „’Ja’ klingt so optimistisch.“
Kido musste lachen. „Ich bin Optimist.“
„Dann… passt das ja.“, entgegnete Mi und fühlte plötzlich ein seltsames Kribbeln im Bauch. Als ob nun nichts mehr passieren könnte.