cf: Calebs Klassenzimmer

Fröhlich wiehernd begrüßte der stolze Palomino-Hengst seinen beinahe blinden Herren. Sicher fand Konstantin seinen Weg zu dem Pferd und drückte sein Gesicht in das weiche Fell am Hals. Er strahlte wirklich wie die Sonne am Himmel und diese ungewohnte Emotion in dem sonst so neutralen Gesicht des Drachen wirkte auf die, die ihn kannten, fast schon beängstigend. Alysha würde sie wahrscheinlich als völlig normal empfinden. "Hallo Tuman" begrüßte er den Hengst und sprach dann einige Sätze in einer Sprache, die außer ihm und seiner Mutter niemand in seiner Umgebung verstanden hatte. Die Muttersprache seiner Mutter eben. Dann öffnete er die Box und führte den Palomino auf den Gang. "Alysha, das ist mein Hengst, Tuman. Sein Name bedeutet Nebel. Tuman, das ist Alysha, meine Mitschülerin" stellte er die beiden sich gegenseitig vor, bevor er das Putzzeug vom Haken an der Boxenwand nahm. "Wenn du ihn mal streicheln willst, tu dir keinen Zwang an. Ganz ruhig auf ihn zugehen und die Hand austrecken, damit er daran schnuppern kann" Er fing an, mit der Kardätche ihm grob über das Fell zu streichen und den gröbsten Dreck loszuwerden. "Wie lang bist du schon hier? Und wie ist die Gegend hier so?" Er war ja noch nicht allzulange hier, da konnte er sich einige Erkundigungen ruhig einholen.

"Hallo Tuman.", sagte Alysha unsicher. Sie sparte es sich Konstantin zu erklären, dass sie zwar leise war, Ruhe aber nicht gerade zu ihren hervorstechenden Eigenschaften zählte.
Der andere Schüler schien das Pferd wirklich zu lieben, er sprach mit ihm in einer fremden Sprache und wirkte weitaus glücklicher als gerade eben noch. Alysha hatte das nie verstehen können und vielleicht konnte sie deshalb nicht so gut mit Tieren umgehen: Sie fand es seltsam mit jemandem zu reden, der einem keine Antwort geben konnte. Sicher funktionierte das - sie würde jede Wette darauf abschließen, dass Tuman Konstantins Worte verstand. Aber nun mal nicht bei ihr.
Ganz langsam streckte sie die Hand aus, nur um sofort zurückzuschrecken, als das große Tier sich bewegte. Peinlich berührt ließ Al die Hand sinken. So würde das nichts werden.
"Ich bin erst ein paar Tage hier.", sagte sie, als Kostja begann ihr Fragen zu stellen. "Aber vor fünf Jahren habe ich die Schule schon einmal besucht... Die Gegend? Es gibt hier kein Meer..."

Das Pferd tänzelte ein bisschen, aber mit einigen Krauleinheiten beruhigte er sich schnell und schnaubte nur noch etwas. Konstantin spürte, dass der Hengst noch nicht draußen gewesen war und ihm Bewegung mehr als gut tun würde. Er hatte viel, sehr viel Energie und musste jeden Tag, egal bei welchem Wetter, draußen bewegt werden. Wenn es Natürlich für das Pferd selbst unangenehm, teilweise sogar gefährlich wurde, dann trainierte Konstantin mit ihm in den Hallen. Aber grundsätzlich ging es nach draußen.
Der Hengst war sein Ein und Alles, wirklich das Letzte, was ihm noch wirklich selbst gehörte. Er hatte ihn geschenkt bekommen, auf der Besitzurkunde stand sein Name, unter der Vormundschaftsurkunde des Tieres stand SEIN Name. Nicht der seines Vaters, nicht der seiner Halbbrüder. Seiner. Und damit gehörte der Palomino wirklich voll und ganz und mit allem ihm. Und für ihn würde er alles tun. Er hatte sich wie ein Kind gefreut, als er hörte, hier gäbe es Ställe für die Pferde der Schüler. Und gut gepflegt wurde Tuman hier auch, er wurde gleich zu Anfang gefragt, was das Pferd denn am liebsten fraß, was es sonst für Futter bekam, wann man ihn auf die Weide lassen sollte. Das alles hatte ihm ein gutes Gefühl gegeben.
Während Konstantin ihn weiter putzte, ließ er sich ihre Antworten durch den Kopf gehen. "Kein Meer? Das ist schade. Ich mag Sonnenaufgänge und -untergänge am Strand. Weshalb, wenn ich fragen darf, hast du vor fünf Jahren diese Schule schon einmal besucht und bist dann gegangen?" Dass sie ein wenig scheu gegenüber Tuman war, verstand er und drängte sie zu nichts. Nicht jeder konnte diesen großen Tieren so vertrauen wie es Kostja tat.

Alysha seufzte. Die Frage hatte ja kommen müssen; sie folgte stets so unweigerlich wie die Ebbe auf die Flut. "Das ist eine verdammt lange Geschichte.", entgegnete sie. "Wenn du dir die Zeit nehmen willst?" Und traurig war sie noch dazu. Alysha war sich nicht sicher, ob sie wirklich schon bereit dazu war, all diese Dinge einem Fremden zu erzählen. Aber vielleicht half ihr gerade das, die nötige Distanz zu gewinnen.

Lange Geschichte? Da steckte wohl doch mehr dahinter, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Es hätte ja auch sein können, dass sie eine andere Schule gefunden hatte, die dann allerdings nicht den gewünschten Standard gebracht hatte. Gab es doch. Aber wenn sie schon ankündigte, dass sie etwas Zeit brauchen würde. Allerdings hörte der junge Drache sehr gut heraus, dass es ihr unangenehm war darüber zu sprechen. Einer der Vorteile, wenn man blind war, die anderen Sinne schärften sich mehr und mehr. Er klopfte die Bürste aus und schnappte sich schon den Kamm, um Mähne und Schweif in Ordnung zu bringen. „Zeit habe ich nun wirklich genug. Aber du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht willst. Ich kann hören, dass es dir nicht gerade angenehm ist, darüber zu sprechen“ Sicher wollte er wissen, was dahinter steckte, aber das war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt. Noch nicht.

Alysha hob die Schultern. "Was ist denn schon angenehm?" Nicht zu reden, sondern stumm zu trauern, bis die Verzweiflung einen beinahe in den Tod trieb? Zu vergessen? All die wunderbaren Momente, die ihr geschenkt und wieder genommen worden waren? Undenkbar.
Sie lehnte sich seitlich an die Boxenwand und beobachtete, wie Konstantin mit seinem Pferd umging. Er war aufmerksamer, als sie gedacht hatte, aufmerksamer als die meisten. Oder vielleicht war es auch offensichtlich, was sie dachte und fühlte, weil man jede Regung an ihrem Gesicht ablesen konnte. Wie auch immer.
"Es ist auch nicht gerade eine schöne Geschichte.", erläuterte Al. "Denn es gibt kein Happy-End." War es das denn schon? Das Ende? War die Geschichte längst vorbei und sie hatte es nur nicht gemerkt? Das war das Schöne an erfundenen Geschichten, man konnte sie beenden, wann man wollte, nach einem siegreichen Kampf, nach der endgültigen Vernichtung des Bösen oder wenn der Protagonist die Liebe seines Lebens gerettet hatte. Vielleicht gab es auch nicht einmal ein glückliches Ende, stattdessen starb die Hauptperson einfach und nahm ihre Liebe mit in den Tod. Ein Ende war es trotzdem.
Niemand fragte nach, was danach geschah. Ob das Liebespaar glücklich vereint blieb, ob sie sich im Totenreich wiedersahen - vielleicht wurden sie ja doch durch einen Unfall getrennt. Oder ob der Held alt und grau und zufrieden wurde - genauso gut konnte es doch passieren, dass seine Mission ihn so sehr gefordert und verändert hatte, dass er nie wieder derselbe sein konnte. Vielleicht kam er an den Punkt, wo man erkennen muss, dass man niemals zurückkann.
Wie macht man weiter?, fragte sich Alysha. Wie knüpft man an an ein früheres Leben? Gestern war sie dem Tod so nah gewesen wie noch nie. Und sie hatte überlebt. Sie hatte wieder Zeit, so viele Jahre zu füllen, doch womit? Mit der Suche nach Eleyn? Alles sprach dafür, dass es unmöglich war, sie je wiederzusehen. Und doch konnte sie den letzten Rest Hoffnung nicht einfach loslassen. Und wenn sie es tat? Was dann?